Eine Frage der Perspekive

Nesrin (11) in Spin Boldak

Seit gut zwei Wochen ist es still hier in der weissen Wüste. «Stille ist gut», pflegt Onkel Fahed stets zu sagen, «sie stellt keine Fragen, aber kann uns auf alles eine Antwort geben». Fahed ist ein kluger Mann. Der klügste, den ich je getroffen habe. Gut, schwer ist das leider nicht, denn weder ich noch mein kleiner Bruder Farrukh dürfen zur Schule – zu gefährlich sei es. Während Farrukh als Knabe noch einigermassen gute Aussichten hat, eines Tages eine Schule von innen zu sehen, sieht es für mich eher düster aus. In Pakistan dürfen Mädchen aus ländlicher Umgebung praktisch nie zur Schule. Umso mehr schätze ich die Ausflüge zu Onkel Fahed. Und da nun schon seit über 14 Tagen weder laute Knalle noch Salvenfeuer zu hören sind, machen Farrukh und ich uns morgen früh auf den Weg zu ihm. 

Chris, (35) in Langley

Seit gut zwei Wochen ist es still geworden hier in Langley. Doch das muss nichts Schlechtes sein. Pflegt doch der stellvertretende Direktor Sheppard stets zu sagen: «Es gibt nichts Stilleres als eine geladene Kanone». Sheppard ist einer der cleversten Männer, die ich je gesehen habe. Und glauben Sie mir, ich habe einige der klügsten Menschen der Welt gesehen. Am MIT und im US Airforce Trainingscamp in Arlington durfte ich nur von den besten und klügsten Menschen der Welt lernen. Umso mehr freue ich mich auf das heutige Meeting mit Sheppard. Seit über 14 Tagen haben wir nun bereits keine neuen Anweisungen mehr erhalten. Da muss etwas im Busch sein. Heute Abend erfahren wir bestimmt mehr.

Nesrin:

Noch bevor die Sonne über dem Hindukusch aufgeht, laufen wir los. Voller Vorfreude spüre ich, dass heute ein wunderschön klarer Tag werden wird – der erste richtige Frühlingstag im neuen Jahr! Wir sind fast allein auf der Strasse Richtung Norden, einzig ein Jeep kreuzt unseren Weg. Auf den trockenen Aschestrassen eine unangenehme Begegnung. Durch den aufgewirbelten Staub fällt es uns kurz schwer, zu atmen. Doch die aufgehende Sonne lässt den Staub schnell verfliegen – und den Ärger gleich mit. Die warmen Sonnenstrahlen kitzeln mein Gesicht – ein Gefühl, dass ich in den kalten Wintermonaten so sehr vermisst habe! Doch nun kommt der Frühling und mit ihm hoffentlich auch der Frieden.

Chris:

Kaum ist die Sonne hinter dem Washington Monument versunken, trommelt uns Shepard zusammen. Heute sei ein grosser Tag, wird uns mitgeteilt. Die Nebelschleier über der afghanischen Wüste legen sich – und mit ihnen auch die Nebelschwaden um ein ranghohes Mitglied der Taliban: Fahri Bakdaddhi. Dieser soll mitunter für die Anschläge am 11. September 2001 verantwortlich sein, ist seither ab- und nun irgendwo an der afghanisch-pakistanischen Grenze wieder aufgetaucht. Vor lauter Aufregung fällt es mir schwer, zu atmen. Seine Taten haben viel Leid über die westliche Welt gebracht und uns in den Krieg ziehen lassen. Doch nun kommt der Frühling und mit ihm hoffentlich auch der Frieden.

Nesrin:

Onkel Fahed wohnt in einem kleinen Dorf, das üblicherweise mehr Schafe als Einwohner zählt. Doch heute steht ein grosses Fest an. Für die Hochzeit des ältesten Sohns des örtlichen Gouverneurs sind heute einige Menschen aus der Region zusammengekommen. Als wir bei Onkel Fahed ankommen, sitzt er gerade vor seiner Hütte und trinkt eine Tasse Tee. Onkel macht echt den besten Tee, den ich kenne. Doch heute schmeckt er irgendwie anders als sonst. Fahed erklärt uns, dass ihm der Kardamom, mit dem er den Grüntee normalerweise würzt, ausgegangen sei. Schade, aber dafür schmecken die gezuckerten Mandeln umso besser! «Wie geht es dir denn, Onkel?», frage ich ihn, als er sich zu uns setzt. «Die lauten Knalle haben ihre Spuren hinterlassen, mein Kind», meint Fahed, «ich höre immer schlechter und das Pfeifen auf meinem linken Ohr ist geblieben» – «Ach was, das leise Pfeifen höre sogar ich, das kommt bestimmt von der Hochzeit hier». Onkel Faheds Mimik wird ganz düster: «Wie, du hörst auch ein Pfeifen?» Noch bevor ich Luft zum Atmen holen kann, kommt das Pfeifen immer näher und mündet in einem dumpfen lauten Knall. Ein greller Blitz überstrahlt die Morgenröte. Danach wird alles dunkel, kalt – und still. Vielleicht fühlt sich ja so Frieden an…

Chris:

Zusammen mit der kompletten Mannschaft begebe ich mich ins Kontrollzentrum, das üblicherweise mehr Computer als Arbeiter zählt. Doch heute steht ein grosser Einsatz an – für mich, die CIA und ganz Amerika. Ich setze mich hinter den Joystick und steuere die Drohne in die Grenzregion zwischen Pakistan und Afghanistan. Schon oft haben wir hier die Bodenaktivität überwacht. Doch so viele Menschen an einem Ort wie heute habe ich noch nie gesehen. «Unsere Informationen scheinen zuverlässig zu sein», meint Sheppard im Hintergrund, «da unten findet ein Treffen mit Fahri Bakdaddhi statt» – «Sind wir uns dabei ganz sicher?», fragt eine Stimme im Hintergrund. Sheppard bejaht: «Feuer!» Noch bevor ich Luft zum Atmen holen kann, drücke ich auf den Knopf. Stille erdrückt den Raum, gefolgt von feierlichem Applaus. Wo die Wärmebildkamera vor wenigen Sekunden noch hunderte von roten Punkten zeigte, ist nun alles dunkel, kalt – und still. Vielleicht fühlt sich ja so Frieden an…

 

 

Ausgehende Nachricht: Eine US-Drohne soll nicht Taliban-Kämpfer, sondern Dutzende Zivilisten getötet haben. Die pakistanische Armee ist außer sich und spricht von einer Missachtung von Menschenleben. Der Fall stellt die angespannten Beziehungen zu den USA auf eine neue Probe.